Serie: Caritas und der digitale Wandel – Teil 3

Caritas als Solidaritätsstifterin im digitalen Wandel

Der Digitale Wandel berührt die Caritas im Innersten ihrer Aufgabe als Anwältin, Dienstleisterin und Solidaritätsstifterin.  Nach schlaglichtartigen Reflektionen zu den Fragen, wie der Digitale Wandel die Caritas als Anwältin und Dienstleisterin berührt, soll es in diesem dritten Beitrag um den Aufgabenbereich der Solidaritätsstifterin gehen und um einige offene Fragen und Perspektiven.


Solidarität 4.0 = Null Solidarität?

Christoph Kucklick, Autor des ungemein spannenden Buches „Die granulare Gesellschaft“, ist nicht der Einzige, der im Digitalen Wandel eine erhebliche Bedrohung der Solidargemeinschaft sieht.
Kucklick setzt seine originelle Analyse bei der Beobachtung an, dass das Konstrukt „Gesellschaft“ granular aufgelöst wird. Aufgrund der enormen Fülle von Daten und der gewaltig gewachsenen Rechnerleistungen lösen sich Cluster, Milieus, soziale Gruppen auf; jede(r) Einzelne wird beschreib,- les- und deutbar.
Was gemeint ist, führen z.B. Kranken- und Autoversicherer vor: Wer gesund lebt bzw. risikoarm fährt, bekommt bessere Tarife oder einen Bonus. Soweit, so gut. Der Nachweis erfolgt über Black Boxes, die im Auto die Fahrdaten aufzeichnen und auf den Rechnern des Versicherungskonzerns ausgewertet werden oder z.B. per App, über die aufgezeichnet wird, was man am Tag so isst und die die Schritte zählt (per Trackingarmband ein automatischer Vorgang). Gesundheits- oder Verkehrsverhalten wird individualisiert. Damit werden Risiken individuell zugeschrieben (wie genau die Daten verrechnet werden, bleibt allerdings undurchschaubar) und eine Fülle weiterer sensibler Daten erfasst. Was bei den Krankenversicherungen bisher eine Domäne der Privaten war (in 2014 hat Generali kurz Aufsehen erregt), weckt auch bei den Gesetzlichen Krankenkassen Phantasien: Die AOK und die Techniker Krankenkasse z.B. belohnen gesundheitsbewusstes Verhalten mit einem Zuschuss für die AppleWatch – das dürfte das Trojanische Pferd des digitalen Zeitalters sein…
Die Bundesdatenschutzbeauftrage Andrea Voßhoff findet erstaunlich klare Worte zu diesen Praktiken – ob sie Gehör findet?

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Das Problem für unser Solidarsystem: Wenn Verhalten auf so präzise Weise individuell zurechenbar wird, löst sich z.B. der Gedanke der solidarischen Krankenversicherung im Wortsinn in Atome auf. (Risiko)Tarife werden individualisiert berechnet (oder gar verweigert); Datenverweigerer werden als Risiko an sich gerechnet werden.
Was noch mit den Daten geschieht, ist völlig unklar, wie z.B. die Insiderin Yvonne Hofstetter deutlich macht. Wir können sicher sein: Zum Aufbau einer solidarischen Gesellschaft werden sie nicht genutzt werden …

Diese kurze Skizze soll hier ausreichen, um deutlich zu machen, in welcher Umbruchsituation wir stehen, wenn es um die Frage nach unserem Sozialstaat geht. Um dem auf den Grund zu gehen, müssen wir weiter fragen und mit dabei sein, wenn es um Alternativkonzepte geht. Caritas ist Solidaritätsstifterin. Hier sind wir gefragt als Schützerin der Solidarität.
(Dass mit der Verwertung von personenbezogenen Daten auch die Möglichkeiten der Manipulation steigen, will ich hier nur als Fußnote anmerken. Ein erschreckendes Beispiel bietet die erfolgreiche Strategie des zweiten Wahlkampfes von Barack Obama. Mehr dazu bei Kucklick oder z.B. in der New York Times.)

 

Digitale Kluft zwischen den Generationen

Eine weitere Facette reiße ich an mit Blick auf die laufende Demografie-Initiative des DCV:
Vielleicht gefährden viele der hier angerissenen Fragen die Solidarität zwischen den Generationen. Weshalb? Ein persönliches Beispiel: Im Gespräch mit einem jungen Berater und Blogger stelle ich einige netzethische Fragen. Die Antwort kommt auf einer unerwarteten Ebene mit dem Hinweis, dass diese Fragen eine Altersfrage seien: Für Digital Natives stellten diese Fragen sich nicht, weil das Leben mit dem Netz und im Netz für sie „normal“ sei. Solche Frage hätten nur die, die mit dem Internet nicht wirklich aufgewachsen seien. Ich insistiere und höre, dass nicht die Ethik das Problem sei, sondern mein Alter. Ich bin 1964 geboren.
Wir haben es hier mit Altersdiskriminierung in einem besonders delikaten Fall zu tun: Politische und ethische Fragen mit erheblicher Bedeutung für meine Lebenswelt werden wegdefiniert mit dem Hinweis auf meine vermeintlich anachronistische Sozialisation – von einem Angehörigen der Generation, die mein und unser künftiges Leben maßgeblich mitbestimmen wird.
Das ist ein Thema, das seinen Ort im Herzen der Caritas-Kampagne 2016 hat, wenn es um Generationensolidarität geht.


Digitalisierung schafft Nähe

Der Digitale Wandel bringt nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Ich berufe mich nochmals auf

Digitalisierung kann auch Nähe schaffen. CC-Lizenz: _dChris/www.flickr.com

Digitalisierung kann auch Nähe schaffen. CC-Lizenz: _dChris/www.flickr.com

Christoph Kucklick (der auf dem Caritaskongress 2016 in Berlin eine Session gestalten wird): Seit einiger Zeit beobachten Sozialwissenschaftler und Psychologen eine „weltweite Zunahme von Mitgefühl und Empathie“. Die Annahme: Empathie wächst mit gefühlter Nähe, die per Skype, WhatsApp, Twitter usw. auch über große Distanzen aufgebaut und gehalten werden kann.
Denken wir das mal weiter: Im Moment ist noch nicht absehbar, ob und wie Entwicklungen aus der Spieleindustrie unsere Wahrnehmung wesentlich verändern und erweitern werden. Mit Werkzeugen wie virtual-reality-Brillen (z.B. Oculus Rift u.ä.) tauchen Spieler in Welten ein, die eine ganz unmittelbare Realität erhalten. Kleidung, die sensorische Wahrnehmung ermöglicht, wird eines Tages vielleicht eine Umarmung spürbar machen, bei der die Personen viele Kilometer voneinander entfernt sind.
Bei dieser Vorstellung wird mir unwohl – aber das hat sicherlich auch damit zu tun, dass mir diese Welten fremd sind. Diejenigen, die mit und in den digitalen Welten aufwachsen, werden das Unbehagen vermutlich nicht empfinden. Lassen wir uns also nicht zu schnell abschrecken. Wenn wir die Chancen des Digitalen Wandels wahrnehmen wollen, müssen wir bereit sein, auch dem Fremden offen zu begegnen.


Kampagnenfähigkeit

Wenn es um Solidarität und Anwaltschaft geht, ist im digitalen Zeitalter Kampagnenfähigkeit gefragt. Sollte Kucklick mit seinen Hinweisen richtig liegen, besteht auch hier für die Caritas Anschlussfähigkeit. Die Digital-Offensive des DCV greift diesen Punkt auf und stellt weitere Fragen – das ist ausgesprochen wichtig, sinnvoll und lobenswert!
Die Offensive lebt davon, dass viele mitwirken. Viele? Besser wäre es, wenn es die meisten sind. Im Moment sind es zwar einige, aber man kann das Gefühl haben, dass es eher wenige sind. Zu wenige?!


Konkret werden

Ich habe in diesem und den beiden vorherigen Beiträgen lediglich Spots gesetzt.
Vieles von dem, was ich anreiße, ist im Anfangsstadium der Entwicklung. Vielleicht verläuft der Prozess anders als vermutet. Vielleicht sind die Risiken überschaubarer, die Chancen größer. So oder so – der Digitale Wandel betrifft uns. Wollen wir ihn mitgestalten?
Die Frage ist beinahe rhetorisch. Der Wandel gestaltet auf jeden Fall die Caritas. Wir können entscheiden, ob wir das über uns ergehen lassen wollen.
Wie durch ein Brennglas wird der Handlungsbedarf deutlich, wenn man das Programm der ConSozial 2015 in die Hand nimmt. Der Claim: „Selbstbestimmt leben, Inklusion gestalten, Soziales pflegen“. Im Programm ist nicht eine einzige Veranstaltung zum Digitalen Wandel zu finden. Als Kontrast sei das Zwischenergebnis des „Foresight“-Prozesses angeführt, der im Auftrag des Bundesforschungsministeriums gesellschaftliche Entwicklungen bis 2030 skizziert (Sabine Depew besten Dank für den Hinweis!). Trend Nr.1 (von 60): „Digitaler Kompetenzdruck als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe“…


Zum Abschluss will ich einige Kernfragen formulieren und nach vorne schauen.

Wo ist das Thema angebunden?
Treiber sind oftmals die Kolleg(inn)en aus der Öffentlichkeitsarbeit – aber da allein gehört es nicht hin, denn es geht nicht (nur) um Digitale Kommunikation. Es sind alle Fachbereiche betroffen. Sa-bine Depew hat dies kürzlich in einem sehr lesenswerten Beitrag mit dem programmatischen Titel „Sozialarbeit 4.0“ unterstrichen).
Wie alle strategisch relevanten Themen, sollte der Umgang mit der Digitalisierung zur Chefsache werden. Und da die Vorstände manchmal nicht wirklich einen intrinsischen Zugang haben, müssen sie sich auf Ballhöhe bringen. Wie beim Thema “Demografischer Wandel”, wie beim Thema „Qualitätsmanagement“.

Wie und wo diskutieren wir die hier formulierten Themen systematisiert im Verband?
Was hier nur angerissen ist, muss systematischer betrachtet und bewertet werden. Wo brauchen wir mehr Wissen, wo liegen Erfahrungen vor, wo besteht Handlungsbedarf (und wo nicht)? Was ist spezifisch Caritas-relevant, was ist eher als allgemeingesellschaftliche Frage anzusehen (auch wenn das kein Ausschlusskriterium für die Bearbeitung des Themas ist, wie die aktuelle Caritaskampagne wunderbar verdeutlicht)?

Wo steht die Caritas im Dialog mit denen, die sich auskennen?
Die Expert(inn)en zum Thema sind z.B. Software-Entwickler, aber auch Fachleute aus der Automobilindustrie oder der Finanzbranche. Hier arbeiten die Treiber der Entwicklung intelligenter Computersysteme, der Robotik, der Schnittstellenforschung Mensch-Maschine. Meine Erfahrung: Sie lassen sich ansprechen und sind bereit, mit Caritas ins Gespräch zu kommen.

Wo sind wir im (fordernden) Dialog mit den Hochschulen und den Forschungsinstituten?
Viele der Fragen gehen über den „Zuständigkeitsbereich“ der Caritas hinaus, viele bedürfen einer grundsätzlichen „Beleuchtung“. Ein Ort dafür wären die Hochschulen für Soziale Arbeit, die theolo-gischen Fakultäten, generell die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Sind wir in der Lage, unsere Fragen so zu formulieren, dass wir Gesprächspartner(innen) gewinnen können?
Dass es kein acatech der Sozialwirtschaft gibt, habe ich bereits beklagt. Muss das so bleiben?

Wo tauschen wir uns aus?
Eine der wichtigsten Dynamiken des Digitalen Wandels ist eine veränderte Grundhaltung: wer bestehen will, muss Wissen und Erfahrungen teilen. Die analogen und digitalen Medien bieten uns eine Fülle von bewährten und neuen Wegen des Austausches. Caritas ist seit jeher darin geübt, Wissen nicht als exklusives Gut zu betrachten. Wir benötigen dringend einen oder verschiedene Orte des Austausches, die über die aktuellen digitalen Plattformen hinausgehen.


Epilog

Caritas steht schon immer in einem komplexen Feld von Erwartungen, Dynamiken, Motivationen. Wir besitzen eine gewaltige Kompetenz darin, diese Komplexität zu meistern und zu reduzieren, ohne flach zu werden.
Wir sind geübt, Not zu sehen und reflektiert zu handeln. Die Theologie der Befreiung hat das mit dem Dreiklang „Sehen, urteilen, handeln“ übersetzt.
An manchen Stellen im Verband hat dieser Prozess begonnen. Auch wenn das „Sehen“ mühselig ist, weil die Phänomene nicht einfach zu erkennen sind und das Urteil bisweilen schwer fällt, weil unsere bewährten Kategorien nicht mehr zu greifen scheinen – die Caritas muss und kann sich dem Digitalen Wandel stellen.

Roland Knillmann
– Der Autor ist Pressesprecher für den Caritasverband für die Diözese Osnabrück. 

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1 Comment

  1. Lieber @Roland, vielen Dank für die vielen spannenden Beobachtungen und Fragen! Es zeigt: Vor uns liegen große, interessante Aufgaben, bei denen Caritas auch ganz eigene Wege suchen muss. Wie können wir Nähe und positive Werte mit den Veränderungen einer digitalen Welt verknüpfen? Welche neue Chancen gibt es? Wo sollten wir uns klar positionieren? Wo müssen wir uns auch abgrenzen, weil der Mensch zu eindimensional definiert und gesehen wird? Gerne möchte auch folgendes ergänzen: Die ConSozial hatte bereits vor einigen Jahren als Pionierin eine Sonderausstellung zu AAL. Im Messebereich ist das Thema Digitalisierung, auch in Fachformen, sehr präsent. Der CBP hat ein dreijähriges Projekt zu den Herausforderungen von AAL in der Behindertenhilfe laufen. Es ist gut, nicht nur die Kommunikationsfachleute sind digital unterwegs. Gemeinsam können wir daran arbeiten, den Verband mit unseren Fragen und Ideen mehr und mehr zu durchdringen. Wie gesagt: spannende Zeiten liegen vor uns!

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