Wie die strukturelle Auswertung von anonymen Daten das Beratungsangebot von [U25] weiter verbessert
Stellen wir uns Mia vor, 16 Jahre alt, irgendwo in Deutschland. Es ist spät abends, und sie hat sich entschieden, online nach Hilfe zu suchen. Mia möchte nicht persönlich über ihre suizidalen Gedanken sprechen. Sie hat Angst vor Konsequenzen – dass Polizei oder Klinik eingeschaltet werden, vor allem aber, dass ihre Eltern davon erfahren.
Dann entdeckt sie [U25] – die Online-Suizidpräventionsberatung der Caritas. Auf der Startseite fällt ihr das Ampelsystem auf: Grün bedeutet freie Beratungsplätze, rot bedeutet Überlastung. Aber auch bei Rot wird sie nicht allein gelassen – Links zu anderen Hilfsangeboten stehen bereit. Schon dieser erste Schritt zeigt: Hier wird niedrigschwelliger Zugang ernst genommen.
Anonymität als Vertrauensbasis
Die Registrierung ist bewusst minimal: Ein Nickname, ein mind. fünfstelliges Passwort – das war’s. Eine E-Mail-Adresse kann angegeben werden, um über neue Nachrichten informiert zu werden, ist aber kein Muss – kein echter Name, kein Geburtsdatum. Die erste automatische Nachricht ermutigt sie sogar: „Gib keine persönlichen Daten preis.” Weniger Daten bedeuten mehr Vertrauen.
Ihre erste Nachricht ist vielleicht zaghaft: „Hallo, ist da jemand?” Oder ausführlicher: eine Schilderung ihrer Situation. Innerhalb von maximal 48 Stunden – meist schneller – antwortet ein*e Peerberater*in. Peerberater*innen sind Menschen, die in ähnlichem Alter und mit ähnlichen Erfahrungen anderen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen Unterstützung, Rat und Hilfe bieten, weil sie sich gut in ihre Situation hineinversetzen können und auf Augenhöhe kommunizieren. Empathisch und ohne Druck.
Wenig Daten, große Wirkung
Wie aber steuert man ein Beratungs- und Hilfsprojekt, das bewusst auf Datensparsamkeit setzt? „Ich wusste immer, dass in diesem Thema großes Potenzial steckt”, erklärt Janna Kleine-Huster, Bundeskoordinatorin von [U25] Deutschland. „Aber wie man strategisch und systematisch herangeht – das war mir ein Rätsel.” Die Lösung fand sie im Austausch mit ihren DCV-Kolleg*innen: Auch anonyme Nutzungsdaten bergen wertvolle Erkenntnisse. Seit Anfang des Jahres unterstützen daher Datenpexpert*innen aus der Caritas-Stabsstelle Digitale Transformation sowie ehrenamtliche Datenwissenschaftler von CorrelAid e.V. Janna bei der Erfassung und Auswertung der Daten von [U25]. “U25 ist nicht nur ein unglaublich wichtiges Angebot, sondern auch ein gutes Beispiel für das Potenzial, welches gerade auch anonyme Nutzungsdaten bieten. Verschiedene Datenquellen liefern uns zeitlich fein aufgelöst wichtige Anhaltspunkte zu Auslastung und Verfügbarkeit des Angebots und lassen fundierte Schätzungen zu, wie hoch die Nachfrage ist, die wir (noch) nicht bedienen können,” erklärt Dr. Georg Förster. Ab August startet zudem eine ausführliche, anonymisierte Befragung der ehrenamtlichen Berater*innen – zu Motivation, Engagement und Belastung.
Excel-Tabellen erzählen Geschichten
Die Datenschätze von [U25] sind unscheinbar, aber aufschlussreich: Excel-Tabellen, die bis 2018 zurückreichen, dokumentieren Beratungskapazitäten, Standorterweiterungen und Engpässe. Die Bilanz von 2023 beeindruckt: Elf Standorte, rund 383 ehrenamtliche Peers, etwa 1.700 beratene Jugendliche. Alles basiert auf freiwilligem Engagement.
Es zeigt sich allerdings, das wahre Gold aber liegt im Ampelsystem selbst. Es offenbart saisonale Muster – etwa der Nachfrage-Höhepunkt im Mai, der mit suizidologischen Erkenntnissen über Krisenzeiten übereinstimmt, erklärt sich dadurch, dass depressive Krisen oft im Winter beginnen, aber erst im Frühling durch steigende Aktivität und gesellschaftliche Veränderungen zu vermehrten suizidalen Handlungen führen. Diese Daten beantworten entscheidende Fragen: Wann werden Kapazitäten knapp? Wo braucht es mehr ausgebildete Peers? Welche Themen treten gehäuft auf?
Wenn das Schweigen spricht
Besonders aufschlussreich sind zudem die stillen Stimmen: Ratsuchende, die nur eine einzige Nachricht schreiben und nie wieder antworten. Oder jene, die auf Alternativ-Links klicken, wenn [U25] überlastet ist. „Mir ist wichtig, unseren ehrenamtlichen Peers den Rücken zu stärken”, betont Janna. „Wenn niemand zurückschreibt, liegt das nicht an schlechter Beratung – es ist im gewissen Sinn normales Nutzungsverhalten.” Diese Erkenntnis entlastet die Berater*innen und bereitet sie besser auf das Phänomen der Funkstille vor. Gleichzeitig helfen die Daten dabei, alternative Hilfsangebote zu optimieren und Übergänge zu verbessern.
Daten und Zahlen als politische Stimme
Doch Daten können mehr als nur Prozesse verbessern – sie geben [U25] eine starke Stimme in politischen Debatten. Wenn Entscheidungsträger*innen über Finanzierung diskutieren, liefern die erhobenen Daten handfeste Argumente für [U25]. Sie machen den gesellschaftlichen Bedarf sichtbar: die Zunahme von Jugendeinsamkeit, die Nachfrage nach niedrigschwelliger Hilfe, die Wirksamkeit des Peer-Ansatzes. „Wir sind längst kein kleines Projekt mehr”, stellt Janna klar. Die Daten beweisen es: [U25] ist ein etablierter, unverzichtbarer Baustein der Suizidprävention. Sie helfen dabei, Ressourcenbedarfe konkret zu beziffern – für Ausbildung, Supervision, Technik und neue Standorte. Fördermittelgeber erhalten so die Nachweise, die sie brauchen.
Vorurteile und gefühlte Wahrheiten mit Fakten überprüfen und überwinden
Gleichzeitig räumen die Daten mit gesellschaftlichen Vorurteilen auf. Sie zeigen: Junge Menschen suchen nicht nur Hilfe – sie engagieren sich auch aktiv als Peer-Berater*innen. Das stärkt das öffentliche Bild des Jugendengagements erheblich. „Es belegt, dass Jugendliche Verantwortung übernehmen und sich solidarisch für Gleichaltrige einsetzen, sogar in einem hochsensiblen Bereich wie der Suizidprävention“, erklärt Janna. Dadurch wird deutlich, wie wertvoll und zukunftsweisend junges Engagement für die Gesellschaft ist. Nicht selten setzen viele von ihnen ihr erworbenes Wissen und Engagement beruflich fort und arbeiten später bei der Caritas oder in ähnlichen sozialen Einrichtungen – somit fungiert das Ehrenamt bei [U25] auch als wichtige Brücke zur beruflichen Entwicklung.
Datenstrategische Weiterentwicklung unseres Angebots
Schließlich ermöglichen valide Daten eine zielgerichtete Weiterentwicklung: den Ausbau in strukturschwachen Regionen, verbesserte Barrierefreiheit, diversere Peer-Strukturen. Für Förderer, Träger und politische Gremien sind sie eine unverzichtbare Entscheidungsgrundlage. Janna bringt es treffend auf den Punkt: „Die Datenanalyse zeigt uns, wo wir nachbessern müssen und was gut funktioniert. So stellen wir sicher, dass junge Menschen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.”
Das große Datenbild
[U25] zeigt: Mit minimalen, anonymen Daten lässt sich eine wirksame Online-Beratung steuern und verbessern. Die Datenprojekte sind dabei mehr als Steuerungsinstrumente. In Zeiten knapper Kassen und politischer Debatten über Jugendengagement machen sie den Wert von [U25] sichtbar und liefern wertvolle Argumente für die Suizidprävention und die Verstetigung von [U25].Damit bleibt [U25] eine wichtige Anlaufstelle für Jugendliche in Krisen – und ein Beispiel für verantwortungsvolle digitale Hilfsangebote der Caritas.
Mehr zu den Caritas-Datenprojekten:
CariData: Das Projekt beschäftigt sich mit Daten aus unterschiedlichen Beratungsfeldern und soll zu einer Verbesserung der Qualität, Aktualität, Verfügbarkeit und Nutzung dieser Daten beitragen. Hierzu werden Prozesse der Datenerhebung, -verarbeitung und -verwertung in den Blick genommen. Das Projekt wird durch die GlücksSpirale gefördert.
Civic Data Lab: Das Civic Data Lab unterstützt organisierte und nicht-organisierte Akteur*innen der Zivilgesellschaft dabei, gemeinwohlorientierte Ziele durch die Nutzung von Daten besser zu erreichen. Es ist ein gemeinsames Projekt von der Gesellschaft für Informatik, CorrelAid und dem Deutschen Caritasverband, gefördert vom BMBFSFJ im Rahmen der Civic Coding Initiative zur Förderung von gemeinwohlorientierter KI.
Weitere Informationen unter: Projekte | caritas|digital