Mit dem Internet aus der Isolation: Digitale Teilhabe für Obdachlose

Janet und ich treffen uns, um über die digitale Teilhabe von obdach- und wohnungslosen Menschen zu sprechen. Die 46-jährige arbeitet seit Februar als Stadtführerin für Querstadtein, einen inklusiven Verein, der Menschen am Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt und bei dem Menschen wie Janet ihre ganz persönlichen Perspektiven der Stadt zeigen. So lernten auch wir uns kennen – bei einer Stadtführung zum Thema Obdachlosigkeit für DCV-Kolleg*innen im Juni.

Janets Geschichte ist exemplarisch für die Komplexität der Obdachlosigkeit

Vor 25 Jahren führte sie ein bürgerliches Leben und arbeitete erfolgreich als Dekorateurin bei Karstadt in München. Psychische Probleme und Alkoholkonsum führten jedoch zu einem radikalen Umbruch. Während Corona strandet sie in Berlin – diese riesengroße Stadt, die durch die Pandemie seltsam leer ist. Auf der Straße findet sie neue Freunde, man hält zusammen, gerade auch in Zeiten der Isolation. Hier lebt Janet ein Jahr in einer Unterführung am Bahnhof Zoo und ein Jahr am Alexanderplatz. Janet ist ein aufgeschlossener Mensch, verständnisvoll und gemeinschaftlich orientiert: „So war ich schon immer, alle kommen mit ihren Sorgen zu mir und ich versuche zu helfen“, erzählt sie mir.

Erst durch das Internet wurde Janet ein politischer Mensch

“Digitale Teilhabe ist enorm wichtig für obdach- und wohnungslose Menschen”, betont Janet. “Sie ermöglicht es, in Kontakt zu bleiben, sich zu informieren, sich weiterzubilden und letztlich auch, sich politisch zu engagieren.” Ihre eigenen Erfahrungen mit einer drohenden Zwangsräumung machten sie zum politischen Menschen. Um sprachfähig zu sein und um öffentlichen Protest zu organisieren, recherchierte und vernetzte sie sich intensiv mit politischen Initiativen und Vereinen, die sich gegen Gentrifizierung und Zwangsräumung stark machen. Das Internet wurde „mein Werkzeug, um mich umfassend zu informieren und politisch meine Stimme erheben zu können“, erklärt sie.

“Viele Obdachlose, die ein Handy haben, wissen gar nicht, wie sie es bedienen sollen. Sie sind überfordert mit der Technik oder mit Passwörtern.”

Viele wohnungslose Menschen sind noch immer offline

Doch die Realität sieht oft anders aus. Laut einer Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe haben nur etwa 60% der Wohnungslosen regelmäßigen Zugang zum Internet. Diese digitale Kluft verschärft die soziale Isolation und erschwert den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen. Janet erklärt außerdem: “Viele Obdachlose, die ein Handy haben, wissen gar nicht, wie sie es bedienen sollen. Sie sind überfordert mit der Technik oder mit Passwörtern.” Die Herausforderungen für obdach- und wohnungslose Menschen im Bereich der digitalen Teilhabe sind also vielfältig und komplex. Und nicht zuletzt wirkte Corona nochmals wie ein Katalysator der Digitalisierung in die breite Gesellschaft. Behörden wie Sozialämter, die zuvor persönliche Vorsprachen bevorzugten, setzten nun verstärkt auf digitale Kommunikationswege und Online-Antragsverfahren. Für die Menschen, die oft schon vor der Pandemie nur eingeschränkten Zugang zu digitalen Ressourcen hatten, bedeutet diese Entwicklung eine zusätzliche Form der Exklusion. Janet wünscht sich zudem eine zentrale digitale und analog vernetzte Anlaufstelle, um Menschen auf der Straße gut erreichen zu können – sei es eine App oder eine Online-Plattform, die dann wiederum mit analogen Informationskanälen verbunden sein müsste.

Banales wie die nächste Akkuladung wird zur unüberbrückbaren Hürde

Oft fehlen obdach- und wohnungslosen Menschen natürlich auch die finanziellen Mittel, um sich Geräte wie Smartphones oder Laptops erst anzuschaffen und einen regelmäßigen Internetzugang zu gewährleisten. Ein weiteres praktisches Problem stellt die fehlende Möglichkeit dar, elektronische Geräte aufzuladen, was besonders für Menschen ohne festen Wohnsitz eine große Hürde darstellt. Nicht zuletzt bereitet die sichere Aufbewahrung wichtiger digitaler Dokumente oft Schwierigkeiten. „Wer seine Dokumente verliert oder beklaut wird, der hat ein riesiges Problem, er verliert praktisch erstmal seine Identität. Gerade für Menschen, die per se in Unsicherheit leben, ist es existenziell, dass ihre Dokumente sicher sind,“ erzählt Janet mir aus eigener Erfahrung. Auch die Recherche von Wohnungsanzeigen oder Bankgeschäfte funktionieren fast nur mit Internet oder sind ansonsten bedeutend teurer, weil Verwaltungsgebühren anfallen – und das sind nur einige Beispiele, bei denen analog heute nicht mehr viel funktioniert.

Um Probleme anzugehen, hat Janet konkrete Verbesserungsvorschläge

Sie plädiert für offene Einrichtungen mit Schulungen und Technik-Sprechstunden speziell für Obdachlose, um deren digitale Kompetenzen zu stärken. Zudem schlägt sie die Implementierung sicherer Cloud-Lösungen vor, die es ermöglichen, wichtige Dokumente digital und geschützt zu speichern. Janet betont auch die Wichtigkeit physischer Anlaufstellen, die als Orte für digitale Vernetzung und Lernen dienen können. In Berlin gibt das Projekt DIGITALES ZUHAUSE von Neue Chance gGmbH, wo sie selbst digitale Unterstützung fand. Hier wurden seit 2020 rund 200 Teilnehmenden mit digitalen Endgeräten versorgt und individuell nach ihren Bedürfnissen geschult. Schließlich wünscht sich Janet die Bereitstellung kostenloser WLAN-Hotspots und öffentliche Akkulademöglichkeiten in der Stadt, zum Beispiel integriert in Parkbänke. Einige Städte haben bereits reagiert. In Hamburg bietet die Initiative “WLAN für alle” bereits seit 2016 kostenlose Internetzugänge an allen öffentlichen Plätzen. In Berlin droht dem Projekt „Free Wifi Berlin“ aktuell das Aus, der Senat hat 2023 die Gelder für den Ausbau um die Hälfte gekürzt. Immerhin gibt es in Berlin an mehr als 650 Wlan-Orten Hotspots, u.a. in Museen, Rathäusern, U-Bahnhöfen und öffentlichen Bibliotheken – diese sind allerdings nicht immer für obdachlose Menschen problemlos zugänglich.

Experten bestätigen die Wichtigkeit dieser Ansätze für die digitale Teilhabe von Menschen in Armut und ohne Wohnung. Auch der Deutsche Caritasverband stellte im Positionspapier “Digitale Zukunft gestalten: Mehr Teilhabe für alle” 2024 fest: „Ohne digitale Teilhabe ist die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben kaum mehr möglich. Sozio-ökonomische und kulturelle Benachteiligung hängt mit digitaler Ungleichheit zusammen und kann diese verstärken. Die notwendige Ausstattung, barrierefreie Zugänge sowie digitale Kompetenzen sind Schlüsselfaktoren für digitale Teilhabe.“ (Quelle: caritas.de)

In der Caritas gibt es an verschiedenen Stellen auch bereits ermutigende Beispiele, bei denen in Projekten wie Connect@Station bei der Bahnhofsmission Münster oder Cloud für wohnungslose Menschen im DiCV Freiburg, in denen obdach- und wohnungslosen Menschen Hard- und Software, WLAN und Strom zur Verfügung gestellt werden. Denn Janets Geschichte zeigt eindrücklich, dass digitale Teilhabe kein Luxus ist – sie ist eine notwendige Brücke in die Gesellschaft. Janet hat es geschafft, diese Brücke zu nutzen und sich politisch mit ihrer Stimme für die Belange von obdach- und wohnungslosen Menschen zu engagieren. Ihre Geschichte ist damit ein mutmachendes Beispiel für positive Veränderungen durch digitale Teilhabe.

“Digitale Teilhabe ist enorm wichtig für obdach- und wohnungslose Menschen”, betont Janet. “Sie ermöglicht es, in Kontakt zu bleiben, sich zu informieren, sich weiterzubilden und letztlich auch, sich politisch zu engagieren.”

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