Die eigenen Dokumente aufzubewahren und zu organisieren ist eine Hürde, insbesondere für wohnungslose Menschen. In einem Workshop in einer Wohnungslosenhilfe-Einrichtung in Lörrach 2019 wurde von wohnungslosen Menschen und Sozialarbeiter*innen die Idee einer digitalen Dokumentenablage entwickelt.
Menschen sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Dokumente kostenlos, sicher, simpel und selbstbestimmt aufzubewahren. Zudem werden Sozialarbeiter*innen entlastet denn diese wenden viel Arbeitszeit auf um Dokumente ihrer Klient*innen wiederzubeschaffen. Oft gehen mangels geeigneter Aufbewahrungsorte wichtige Dokumente wie Personalausweis, Geburtsurkunde, Krankenkassenkarte, ALG- und Rentenbescheide, Bewerbungsunterlagen, etc. verloren.
Diese Dokumente digital zu sichern spart viel Zeit und vermeidet Ärger bei der Wiederbeschaffung.
Hierfür braucht es eine Cloud abseits bestehender Clouds und Speicherlösungen. Denn sie bietet eine besonders leichte Bedienbarkeit und ein übersichtliches Nutzerinterface, das nur die wichtigsten Funktionen enthält. So können auch unerfahrene Nutzer*innen die Cloud sicher bedienen. Datenschutz und Datensicherheit haben oberste Priorität. Mit Servern in Deutschland, Sicherheitszertifikaten und dem europäischen und kirchlichen Datenschutz hat die Cloud die höchsten Standards, damit die wichtigen Dokumente gut geschützt sind. Die direkte Freigabe von Dokumenten an Einrichtungen und Sozialarbeiter*innen bietet die Möglichkeit diese mit Sozialarbeiter*innen zu teilen und Unterstützung z.B. bei Anträgen zu bekommen. Sozialarbeiter*innen können nach expliziter Freigabe Dokumente in die Clouds ihrer Klient*innen hochladen, um sie beim Einscannen zu unterstützen. Geschulte Sozialarbeiter*innen vor Ort können zudem leichter bei Fragen und Problemen in der Nutzung und Bedienung der Cloud helfen.
Der damalig AGJ-Fachverband Vorstand Alexander Schmidt stellte daraufhin gemeinsam mit dem damaligen Referatsleiter der Wohnungslosenhilfe Stefan Heinz einen Antrag auf Förderung im Rahmen des REACT-EU Förderprogramms. Von Juli 2021 bis Dezember 2022 wurde das Projekt anschließend von den Projektleitern Robin Haensse und Moritz Bross und dem Projektteam bestehend aus Bernhard Ruchti, Ilaria Mastrelli, Valentin Wells und Niko Suchowitz umgesetzt.
Partizipation ist die Grundlage
Essentiell war die aktive Einbindung von wohnungslosen Menschen und Sozialarbeiter*innen in allen Schritten des Projekts. So wurden die Anforderungen an die Cloud in vielen Workshops in Einrichtungen vor Ort gemeinsam erarbeitet und die Projektschritte mit Betroffenen abgestimmt.
Zu Beginn des Projekts hat das Projektteam daher ein umfangreiches Partizipations-Konzept mit mehreren Ansätzen entwickelt:
Bedarfsanalyse
Mit Fragebögen zu den demografischen Merkmalen und Erfahrungen im Umgang mit digitalen Lösungen der Zielgruppe konnten wir grundlegend die Zielgruppe der wohnungslosen Menschen kennenlernen und deren Anforderungen an eine digitale Lösung erfahren. Mit zahlreichen Gesprächen in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe vor Ort konnten wir die Lebensrealität besser kennenlernen und Sorgen, Ängste, aber auch Chancen und Risiken in der Entwicklung einer Cloud besser einschätzen. Der Bedarf an einer Cloud wurde auch hier klar bestätigt.
Expert*innen Interviews
Zu Beginn des Projekts wurden zwei Expert*innen-Interviews mit Sozialarbeiter*innen des AGJ-Fachverbandes geführt um die Perspektive der Expert*innen aus der Praxis mit einzubeziehen. Themen waren der allgemeine Umgang mit Dokumenten in der Einrichtung und Folgeprobleme die aus dem Verlust von Dokumenten für die Klient*innen entstehen können. Außerdem die Bereitschaft von Sozialarbeiter*innen, ihre Arbeit mit Dokumenten von Klient*innen zu digitalisieren. Hilfreiche Funktionen für die Cloud und eventuelle Bedenken vonseiten der Nutzer*innen wurden diskutiert. In beiden Interviews hat sich deutlich gezeigt, dass die Neubeschaffung von Dokumenten die Arbeit von Sozialarbeiter*innen stark verlangsamt und in wohnungslosen Menschen emotionalen und psychischen Stress verursacht. Die Cloud-Lösung muss zudem Datensicherheits-Bedenken der Nutzer*innen berücksichtigen. Die Arbeit von Fachkräften der Wohnungslosenhilfe kann von digitalen Angeboten profitieren, es kann jedoch nur mit ausreichend Begleitung und Schulungen funktioniert. Der Mehrwert ist jedoch klar: Das Fehlen von Dokumenten kann für Klient*innen im schlimmsten Fall zu Haft und Beeinträchtigung der Teilhabe am sozialen Leben führen oder gesundheitliche Folgen haben. Hier besteht ein großer Handlungsbedarf.
Kreativ-Workshops
Mit Kreativ-Workshops in Einrichtungen mit wohnungslosen Menschen haben wir eine aktivere und gemeinsame Lösungsentwicklung angestoßen: Mit kreativem Arbeiten gelingt die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen Anhand von imaginären Beispielprojekten wie z.B. einem Roboter für die Wohnungslosenhilfe. So erarbeiteten wohnungslose Menschen Ideen für die Umsetzung anhand derer wir Lösungsideen für die Cloud übertragen konnten.
Streetwork
Bei der Zielgruppe muss zwischen wohnungslosen Menschen und obdachlosen Menschen unterschieden werden. Ein Großteil der wohnungslosen Menschen ist über stationäre und ambulante Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe mit Workshops erreichbar. Das Workshop-Format hat sich jedoch als nicht geeignet gezeigt, um obdachlose Menschen zu erreichen. Diese sind in erster Linie von der Problematik des Dokumentenverlustes betroffen, da auf der Straße wenig Möglichkeiten bestehen Dokumente sicher aufzubewahren. Rücksäcke werden geklaut, Dokumente verloren oder durchnässt.
Die Verbindlichkeit eines Workshop-Termins ist oftmals schwer mit dem Alltag von Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben, zu vereinbaren. Aus diesem Grund hat das Cloud-Team einen Streetwork-Ansatz entwickelt. In Kooperation mit Straßensozialarbeiter*innen aus verschiedenen Einrichtungen Freiburgs (Freiburger Straßenschule und KontaktNetz) wurde der Austausch mit obdachlosen Menschen gesucht, um ihre Anliegen, Bedenken und Wünsche in der Entwicklung der Cloud mit einfließen zu lassen. Einmal pro Woche war eine Projektreferentin des Cloud-Team entweder auf der Straße oder bei mobilen Anlaufstellen um sich zusammen mit Streetworker*innen mit den obdachlosen Menschen über die Cloud-Lösung auszutauschen. Die Entscheidung, den Streetwork-Ansatz in Kollaboration mit Streetwork-Einrichtungen zu führen, resultierte aus der grundlegenden Rolle der Beziehungsarbeit mit wohnungslosen bzw. obdachlosen Menschen. Aus dieser Perspektive unterstützen Streetworker*innen, die im engen Kontakt mit den Klient*innen sind, den Austausch mit der Projektreferentin des Cloud-Teams.
Design Thinking
Das gesamte Projekt ist agil aufgebaut und folgt den Design Thinking Prinzipien:
Daneben haben wir mit gezielten Design Thinking Methoden wie Personas und WKW-Fragen die Zielgruppe definiert und mit Perspektivwechseln die Probleme der wohnungslosen Menschen betrachtet. Daraus ließ sich ein konkreter Anforderungskatalog an eine Cloud für wohnungslose Menschen erstellen.
Beirat
Mit einem Beirat aus Menschen der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen und Expert*innen aus Wissenschaft, Politik, Datenschutz und der Wohnungslosenhilfe, haben wir ein möglichst diverses beratendes Gremium geschaffen das die entscheidenden Richtungsentscheidungen im Projekt mit beraten hat.
Pilotprojekte
In Pilotprojekten wurden verschiedene Cloud-Lösungen verglichen. Die bereits bestehende Cloud für wohnungslose Menschen „Reconnect.fr“ aus Frankreich wurde parallel zu einer vom Projektteam selbst entwickelten Cloud auf Open-Source-Basis in mehreren Einrichtungen geschult und getestet. Das Feedback und die Auswertung dieser Pilotprojekte entschieden daraufhin über die Wahl der Cloud. Das Ziel: Sicherheit, Transparenz, Datenschutz und besonders eine einfache Bedienung müssen gewährleistet werden.
Erfahrungen im Projekt
Bei wohnungslose Menschen und Sozialarbeiter*innen, aber auch in der Politik, bei den Einrichtungen und Trägern der Wohnungslosenhilfe stößt das Projekt auf viel Zuspruch und der große Bedarf wird regelmäßig bestätigt. Erkenntnisse und Ergebnisse sowie der Open-Source Code der Cloud werden hier auf dem Caritas-Digital-Blog veröffentlicht.
Das ist ein sehr interessanter Ansatz;)
Martin